Jaan-Peer Landmann (MSc) über einen elementaren diagnostischen Ansatz in der Chiropraktik
Funktionelle Neurologie gilt als noch recht junger Ansatz, um den Ursachen von Störungen umfassend auf den Grund zu gehen. Jung ja, aber auch bereits gut erforscht. Sie geht davon aus, dass immer das Gehirn als Ursache an einer Störung beteiligt ist – sowohl physisch als auch psychisch. In der Behandlung eröffnet dieser Ansatz völlig neue Möglichkeiten.
Warum? Das Gehirn ist die Steuerzentrale unseres Körpers – von grundlegenden Lebensfunktionen über Bewegungskoordination bis hin zu Affekt- und Triebverhalten und vielem mehr. Übertragen in die Praxis kann das bspw. heißen: Ein Patient klagt über Schmerzen auf der rechten Körperseite – Knie, Schulter, Kiefergelenk etc. Zufall? Wohl kaum, denn im Körper gibt es eigentlich selten Zufälle. Wir fragen uns also: Was versorgt, was steuert all diese Strukturen? Die Antwort: die gegenüberlegende, linke Gehirnhälfte.
Verstehen wir also, wo der Stress genau entsteht, können wir passende Strategien und Behandlungsvorschläge entwickeln – immer mit dem Ziel, die schwächere Gehirnhälfte zu unterstützen. Bezogen auf die Chiropraktik heißt das: Wir handeln weniger wirbel-spezifisch, sondern folgen einem übergeordneten Ansatz. Hat bspw. die rechte Körperhälfte ein Problem, sprich die linke Gehirnhälfte scheint geschwächt, untersuche ich mittels spezifischer Tests den Stresslevel dieser Gehirnhälfte und schaue, welcher Teil genau betroffen ist. Basierend auf diesen Erkenntnissen konzentriere ich mich anschließend auf Justierungen ausschließlich auf dieser Körperseite.
Dreh- und Angelpunkt Wirbelsäule
In der Chiropraktik ist die Wirbelsäule häufig der Ansatzpunkt für Justierungen. Das bleibt sie auch. Jedoch mit neuer Perspektive. Denn mit Blick durch die Brille der funktionellen Neurologie wird klar: Die Wirbelsäule bzw. die subluxierten Wirbel sind im Prinzip nur die Sicherung, die rausgeflogen ist. Der eigentliche Kurzschluss hat im Gehirn stattgefunden. Wir nutzen die Wirbelsäule sozusagen als Zugang zu diesem System und können so das Gehirn beeinflussen. Davon waren auch schon die Begründer der Amerikanischen Chiropraktik, D.D. Palmer und B.J. Palmer, überzeugt, und das vor über 120 Jahren.
Funktionelle Neurologie – vom Großen zum Kleinen
Da es sich bei Neurologie um ein sehr komplexes Fachgebiet handelt, halte ich es für wichtig, sich Stück für Stück in die Materie einzuarbeiten. So entsteht nach und nach ein Verständnis für die Zusammenhänge im Körper. Bspw. auch dafür, dass sich Störungen im Gehirn nicht nur auf muskulärer Ebene zeigen können, sondern auch auf organischer und psychischer Ebene. Auch Hormone können davon betroffen sein.
Um diese Zusammenhänge aufzuzeigen, haben wir z.B. in unseren gemeinsamen Arbeitskreisen, die wir zusammen mit dem Bund Deutscher Heilpraktiker anbieten, eben diesem Ansatz und gehen vom Groben zum Feinen. Wir vermitteln z.B. einfache Tests: Wie lerne ich, das Gehirn zu differenzieren? Wie kann ich untersuchen, welche Körperseite und welcher Teil des Gehirns betroffen ist? Einiges lässt sich bspw. über Geräusche herausfinden oder über Untersuchungen des Auges. Mit dem Wissen, welcher Teil des Gehirnes für Hören, Sehen, Tasten etc. zuständig ist, lässt sich dann eingrenzen, wo das Gehirn geschwächt ist. Wir vermitteln noch viele weitere Tests, wie z.B. Balance-Tests. Kann mein Patient auf einem Bein stehen? Auf dem linken genauso gut wie auf dem rechten? Mit geschlossenen Augen eine Minute lang auf der Stelle laufen, ohne dass er sich im Kreis dreht? Ist er folglich in der Lage, seinen Raumsinn zu nutzen? Bekommt er vom Körper ein hundertprozentig richtiges Feedback, wo er sich befindet? Weiß sein Körper, wo sein linkes und sein rechtes Bein sind? Und kann er das entsprechend steuern? Und, und, und.
Wir untersuchen also nicht mehr ausschließlich die Wirbelsäule bzw. die Statik, sondern wie es um die Balance im Gehirn gestellt ist. Denn letztlich sollen die rechte und linke Gehirnhälfte im Gleichgewicht sein, dann funktionieren wir am besten.
Neuland mit großem Potenzial
Was sich mit funktioneller Neurologie alles bewegen lässt, zeigt z.B. der US-Amerikaner Michael Hall (Doctor of Chiropractic), einer der bekanntesten Chiropraktoren auf diesem Gebiet. Er ist viel in Europa und in den USA unterwegs, betreibt seine eigene Praxis, unterrichtet und ist in der Forschung tätig. Michael Hall hat bereits viel als Gutachter vor Gericht gearbeitet. Bspw. um zu beweisen, dass ein Kollege durch seine Behandlung keinen Schlaganfall auslösen konnte, sondern dass die Ursache woanders liegen musste. Zudem betreut er viele Sportvereine, z.B. im Basketball und Baseball, und hat sich auf diese Weise in Amerika bereits einen großen Namen gemacht.
Bei Chiropraktik Campus Hamburg beschäftigt sich vor allem Dozent Thomas Meier (MSc) mit diesem weiten Themenfeld. In seinen Seminaren zeigt er auf, dass wir Chiropraktiker das Feld unserer Tätigkeit durch den Einsatz funktioneller Neurologie deutlich erweitern können. So können wir nicht nur ganz andere Patientengruppen ansprechen, sondern auch den Bereich unserer Tätigkeit erweitern. Denn neben unseren Justierungen können wir noch viel mehr tun: Tipps geben, Übungen zur Balance, zum Entspannen etc., um die Stimulation der schwachen Gehirnhälfte zu fördern und vieles mehr. Wir sind gespannt, wohin uns dieser Weg noch führen wird!
Quelle/Fotograf: Bund Deutscher Heilpraktiker
Jaan-Peer Landmann (MSc), Managing Director Chiropraktik Campus Hamburg
veröffentlicht im September 2019